Play it again – Vom Spielbilderbuch zum Videospiel

Spielbilderbücher und Videospiele – zwei unterschiedliche Gruppen von Medien, die doch viele Gemeinsamkeiten aufweisen. In der Ausstellung Play it again – Vom Spielbilderbuch zum Videospiel gibt die Kinder- und Jugendbuchabteilung einen Einblick in ein laufendes Forschungsprojekt, das historischen Ursprüngen der Videospiele in Spielbilderbüchern nachspürt. Dabei soll nicht behauptet werden, dass Videospiele in direkter Linie Nachkommen der Spielbilderbücher seien. Doch es lassen sich bemerkenswerte Gemeinsamkeiten entdecken. Und nicht zuletzt wenden sich Videospiele in jüngerer Zeit selbst den Büchern zu.

Vom Kodex zur Sehmaschine

Bücher begleiten uns seit Tausenden von Jahren. Sie können unterschiedliche Formen annehmen, doch das gebundene Buch – der sogenannte Kodex – ist seit rund 1600 Jahren die meistgenutzte Form. Durch die fortschreitende Digitalisierung ändert sich dies im Alltag Schritt für Schritt, doch noch sind Bücher in Kodexform allgegenwärtig.

Der Kodex ist so erfolgreich, weil er auf kleinem Raum verschiedenartige Informationen beherbergen kann. Zudem ist er haltbarer als die Schriftrolle und leichter zu transportieren als die Tontafel. Mit der Erfindung des Buchdrucks und dessen ständiger Vereinfachung und Beschleunigung wird er darüber hinaus immer günstiger und verfügbarer.

Belebte Bücher

Anders als die gesprochene Sprache, die es wiederzugeben verspricht, anders auch als das wesentlich ältere Theater, sind die Bücher jedoch stumm und unbelebt. Bereits im Mittelalter fand man mit Drehscheiben aus Papier, sogenannten Volvellen, jedoch eine Möglichkeit, das Buch in Bewegung zu setzen.

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Die Drehscheibe (Volvelle) in Comenius‘ Orbis Pictus kann gedreht werden. Sie stellt nach einer älteren kosmologischen Vorstellung die Erde im Mittelpunkt des Weltalls dar. Um sie herum rotieren der Mond, die Sonne und die noch nicht als Sonnen verstandenen Sterne.

Johann Amos Comenius: Orbis Sensualium Pictus Quadrilinguis
Nürnberg: Endter 1679 – Singatur: 53 MA 505589 R

Mit der um 1800 virulenten Forderung nach Lebendigkeit, wie sie beispielhaft Friedrich Schiller zum Ausdruck bringt, wurde das Problem dringlicher. Man begann in dieser Zeit, den alten Kodex mit neuartigen Papiermechaniken aufzuwerten. Bilder konnten schon lange darin präsentiert werden. Nun sollten sie veränderlich, beweglich und plastisch werden.

„Welche Verstärkung für Religion und Gesetze, wenn sie mit der Schaubühne in Bund treten, wo Anschauung und lebendige Gegenwart ist, wo Laster und Tugend, Glückseligkeit und Elend, Thorheit und Weisheit in tausend Gemälden faßlich und wahr an dem Menschen vorübergehen“ (Friedrich Schiller, Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet, 1784)

Es entstanden Spielbilderbücher wie The History of Little Fanny (1810), die neue Spielzeuge wie die Ende des 18. Jahrhunderts aufkommende Anziehpuppe aus Papier mit dem Buch verbanden. Wie einige Jahre später von dem Romantiker E.T.A. Hoffmann in Klein Zaches genannt Zinnober (1819) beschrieben, steigen die Figuren sozusagen aus dem Buch heraus und werden in den Händen der mit ihnen spielenden Kinder lebendig.

„Als Prosper Alpanus das Buch aufschlug, erblickten die Freunde eine Menge sauber illuminierter Kupfertafeln, die die allerverwunderlichsten mißgestaltetsten Männlein mit den tollsten Fratzengesichtern darstellten, die man nur sehen konnte. Aber sowie Prosper eins dieser Männlein auf dem Blatt berührte, wurd’ es lebendig, sprang heraus und gaukelte und hüpfte auf dem Marmortisch gar possierlich umher […].“ (E.T.A. Hoffmann, Klein Zaches genannt Zinnober, 1819)

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Little Fanny
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Neben The History of Little Fanny erschienen im gleichen Verlag auch an Jungen adressierte Bücher wie The History and Adventures of Little Henry.

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Fannys Kopf ist ein eigenes Papierelement. Er wird an der passenden Stelle in der Geschichte auf den im Text angegebenen Körper gesteckt.

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Fannys Kleidung steht symbolisch für ihre jeweilige Situation, ob als Bettelmädchen oder Fischverkäuferin.

The History of Little Fanny
London: S. & J. Fuller 1810 – Signatur: 53 BA 3 501376 R

Eine wichtige Rolle spielte dabei, dass sich in der Aufklärung das Bild des Kindes grundlegend änderte. Nun werden Kinder nicht mehr bloß als kleine Erwachsene betrachtet, sondern die Kindheit als eigener Lebensabschnitt. Vor allem Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Émile oder Über die Erziehung aus dem Jahr 1762 hatte diese Umdeutung stark beeinflusst.

La Maison des poupées
Paris: Guérin-Müller & Cie. und A. Capendu 1880 – Signatur: 53 BB 501469 R

 

Vor dem Hintergrund der Erfindung und Verbreitung immer neuer optischer Apparate und Bildmedien – von der Camera Obscura bis zum Film – werden im 19. Jahrhundert weitere Bewegungsmechaniken in das Buch integriert, um die Bilder in Bewegung zu versetzen. Der Londoner Verlag Dean & Son bringt in den 1860er Jahren eine Reihe von Spielbilderbüchern mit innovativen Mechanismen auf den Markt. Besonders der ebenfalls in London tätige Nürnberger Verleger Ern(e)st Nister (1841–1906) und der Münchner Karikaturist und Illustrator Lothar Meggendorfer (1847–1925) ersinnen gegen Ende des Jahrhunderts Bücher mit komplexen Bewegungsmechaniken.

Lothar Meggendorfer: Reiseabenteuer des Malers Daumenlang und seines Dieners Damian
Esslingen: Schreiber 1889(?) – B III b, 1954 R

Die Reise nach Afrika der Berliner Luxuspapierfabrik Adolf Sala ist eines von vielen Beispielen für Sehmaschinen des 19. Jahrhunderts, die bewegte Bilder erzeugen sollten. Hier schiebt sich das lange Bildband mittels Kurbelantrieb vorbei an einen theatralen Rahmen und gibt den Blick frei auf wechselnde kolonialistische Szenen aus Nordafrika. Eine Spieluhr ist mit dem Kurbelantrieb verbunden; sie untermalt die Szenen musikalisch.

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Der Aufsatz des Panoramas macht es einem Theater ähnlich.

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Hinter dem Aufsatz verbirgt sich eine Mechanik, die von außen mit einer Kurbel betrieben wird, die auch eine Spieluhr in Gang setzt, so dass der Szenenwechsel von Musikbegleitet wird.

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Das kolonialistisch geprägte Menschenbild, das der Sehmaschine reproduziert, wurzelt unmittelbar im historischen Kontext der Afrikanischen Reise. In die Entstehungszeit des Kurbelpanoramas fällt beispielsweise die Erschließung des Afrikanischen Viertels in Berlin-Wedding mit kolonialen Straßennamen, die erst in jüngster Zeit geändert wurden.

Eine Reise nach Afrika. Grosses Schauspiel in vielen Aufzügen
Berlin: Luxuspapierfabrik Adolf Sala – 53 BB 500389 R

Im 20. Jahrhundert wurden diese Erfindungen weiterentwickelt. So brachte die Berliner Illustratorin Tom Seidmann-Freud (1892–1930) in den späten 1920er Jahren mit Unterstützung des Verlegers Herbert Stuffer (1892–1966) Das Wunderhaus und Das Zauberboot heraus, Spielbilderbücher „zum Drehen, Bewegen und Verwandeln“. Noch in den 1940er Jahren veröffentlichte die Illustratorin Marianne Scheel (1902–2002) unter schwierigen Bedingungen zusammen mit der Kinderbuchautorin Hanna Schachenmeier (geb. 1894) bei Stuffer das Spielbilderbuch Kommt mit zum Handwerksmann! Günstiger waren die Verhältnisse in den USA, wo der Illustrator und Papieringenieur Julian Wehr (1898–1970) in dieser Zeit dutzende bewegliche Spielbilderbücher in großen Auflagen publizierte und sich ihre Mechaniken patentieren ließ.

Julian R. Wehr: Animated Illustration
US-Patent Nr. 2384662, 11. September 1945

Räumliche Bücher

Während Bücher mit derartigen Mechaniken anstreben, Bilder durch Bewegung lebendig werden zu lassen, versucht eine zweite Gruppe von Büchern und verwandten Objekten die Bilder räumlich und damit lebensechter zu machen.

Schon im frühen 18. Jahrhundert erschafft der Bilderbogenverleger und Kupferstecher Martin Engelbrecht (1687–1756) eine Vielzahl von Dioramen aus Papier und Karton. Dazu teilt er interessante Ansichten von Orten oder Ereignissen in mehrere Ebenen, die er ausschneidet und auf Karton aufzieht, um sie gestaffelt anzuordnen. Das früheste bekannte Beispiel für ein Buch, das diese Technik verwendet, ist Leopold Chimanis (1774–1844) „Bilderbuch ganz neuer Art“: Bunte Scenerien aus dem Menschenleben, das 1836 in Wien erschienen ist.

Leopold Chimani: Bunte Scenerien aus dem Menschenleben. Ein Bilderbuch ganz neuer Art zum Nutzen und Vergnügen der Jugend
Wien: H.F. Müller 1836 – Signatur: 19 ZZ 273

 

Die in das Buch eingestreuten aufstellbaren Szenerien können manuell aufgestellt werden. Sie zeigen dann Schlittenfahrten, Tanzbären und andere mehr oder weniger spektakuläre Bilder.

Lothar Meggendorfer, der ganz verschiedene Spielbilderbücher mit unterschiedlichen Mechaniken entwickelte, gestaltete mit dem Leporello Vor dem Thore (1893), dem Internationalen Circus (1887), dem Puppenhaus (1889) und dem in der Ausstellung gezeigten Stadtpark (1887) gleich mehrere unterschiedliche Bücher, welche die Räumlichkeit ihrer Gegenstände in den Vordergrund rücken. Mit Gedichten und Zeichnungen erklärte Meggendorfer den Kindern, wie die Bücher zu benutzen sind.

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Auf dem Vor- und Nachsatz des Spielbilderbuchs erläutert Meggendorfer in Versen, wie das Buch aufgestellt werden kann.

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Das Spielbilderbuch ist ein Leporello. Seine großformatigen Seiten können auf unterschiedliche Weise aufgestellt werden. Sie zeigen unterschiedliche Szenen eines Stadtparks an einem Sonntag: spielende Kinder, flanierende Erwachsene, Soldaten, eine Spielzeughändlerin und viele andere.

Lothar Meggendorfer: Im Stadtpark. Ein Bilderbuch zum Aufstellen mit ausgeschnittenen Figuren
München: Braun & Schneider 1887 – Signatur: B III b, 1849 R

Lothar Meggendorfer: Zeichnung zur Benutzung seines Spielbilderbuchs Das Puppenhaus

Vergleichbare Bücher mit ausfaltbaren Bildern, die ihre Tiefenwirkung aus der Staffelung mehrerer Papierebenen entfalten, legt auch Nister auf. Diese Bücher stehen historisch und medial in unmittelbarer Nähe zum Papiertheater, was sich besonders anschaulich an Franz Bonns (1830–1894) im Esslinger Verlag J.F. Schreiber publizierten Theater-Bilderbuch (1882) zeigt.

Franz Bonn: Theater-Bilderbuch. Vier Scenen für das Kinderherz mit ganz neuen Decorationen und Text in Versen
Esslingen: J.F. Schreiber 1882 – Signatur: B III b, 2004 R

Papiertheater erfreuen sich seit dem frühen 19. Jahrhundert und bis ins 20. Jahrhundert hinein großer Beliebtheit in bürgerlichen Kinderstuben. Berühmt ist die umfangreiche Szene am Weihnachtsabend der Familie Buddenbrooks in Thomas Manns (1875–1955) gleichnamigen Roman (1901), in dem ein Papiertheater anschaulich beschrieben wird.

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Die Spielfiguren werden aus Bilderbogen ausgeschnitten und auf Karton oder Holz aufgezogen. An drähten lassen sie sich über die Bühne führen.

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Das Proszenium, auch Vorbühne genannt, rahmt die Bühne und die dort aufgeführten Stücke.

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Die Seitenkulissen werden gestaffelt auf die Bühne platziert, so dass sie aus dem Blickwinkel des Publikums eine Tiefenwirkung erzeugen.

Papiertheater aus dem Bestand der Kinder- und Jugendbuchabteilung

Kulissen, Figuren und auch das Papiertheater selbst wurden von den Kindern hergestellt, indem Bilderbogen ausgeschnitten und auf Karton oder Holz aufgezogen wurden. Die Stücke wurden dann entsprechend der Spielbücher einstudiert und der Familie oder Freunden vorgeführt, wobei auf den Kinderbühnen gespielt wurde, was auf den großen Bühnen auch zu sehen war.

Das Papiertheater ähnelt dabei nicht nur die Form der Guckkastenbühne, die um 1800 die Theater in Europa beherrscht, sondern auch Jahrmarktsguckkasten, nach dem erstere benannt ist. In diesem Sinne ist auch das Papiertheater eine Sehmaschine, mit der sich dreidimensionale bewegte Bilder erzeugen ließen.

James H. Dulin und Harold B. Lentz: Self Erecting Illustration
US-Patent Nr. 1913797, 13. Juni 1933

Seit den frühen 1930 Jahren brachte der New Yorker Verlag Blue Ribbon Press eine Reihe von Pop-up-Büchern auf den Markt, die hier auch erstmals so bezeichnet werden. Die Firma ließ sich verschiedene Mechaniken selbstaufstellender Bilder patentieren. Aus der Bindekante der Bücher falten sich die Bilder aus, wie wir es von aktuellen Pop-up-Büchern gewohnt sind. Scheinbar werden die Figuren zum Leben erweckt, wenn sie aus dem Buch steigen wie Prosper Alpanus’ Papierfiguren.

Carlo Collodi  und Harold B. Lentz: The „Pop-up“ Pinocchio. Being the Life and Adventures of a Wooden Puppet Who Finally Became a Real Boy 
New York: Blue Ribbon Books 1932 – Signatur: B IV 2a, 2992 R

„Bengele trippelte von einem Fuß auf den andern. Der Mut ging ihm aus; er zögerte, er kämpfte mit sich selber, endlich sagte er: ‚Gib mir zwanzig Pfennig für dies ABC-Buch!‘

‚Ich kaufe nichts von andern Kindern‘, sagte der kluge Knabe.

‚Komm her! – Für zwanzig Pfennig nehme ich das ABC-Buch‘, rief ein Lumpenmann, der eben mit seinem Karren dazukam.

Sofort wurde der Handel abgeschlossen. –

Bengele, Bengele, hast du alles vergessen? Der arme Vater Seppel hat dir gestern das ABC-Buch gekauft, er hat dafür seinen einzigen Kittel drangegeben und geht jetzt hemdärmelig bei dem Schnee und der harten Kälte!“

(Carlo Collodi: Pinocchio. Die Geschichte vom hölzernen Bengele. Deutsch bearbeitet von Anton Grumann. Freiburg i.Br.: Herder, 1913)

Moderne Spielbilderbücher vereinen oftmals die zuerst einzeln entwickelten Mechaniken. Neben Pop-up-Bilder treten Drehscheiben und Ziehlaschen bewegen Figuren: Räumlichkeit und Bewegung wirken zusammen, um die Bücher lebendig werden zu lassen.

Von der Lasche zum Knopf

Mit der Elektrifizierung beginnt sich im 19. Jahrhundert die Elektrodynamik unmittelbar auf die Lebenswirklichkeit auszuwirken. Im Zeitalter der Elektrodynamik verändert sich der Umgang der Menschen mit Apparaten. Diese gehorchten zuvor der klassischen Mechanik. Sie waren mit Hebeln, Kurbeln, Pendeln, Zahnrädern und anderen Mechanismen ausgestattet, die Kräfte zum Wirken bringen. An Spielbilderbüchern wie Meggendorfers Ziehbilderbüchern lässt sich dies leicht erkennen: Zuglaschen sind solche mechanischen Elemente, die von den Gesten der Hand in Bewegung gesetzt, Kräfte übertragen, um Bewegungen in Gang zu setzen.

Sind die Spielbilderbücher also mechanische Sehmaschinen, so stellen sich Videospiele als elektrodynamische Sehgeräte dar. Damit geht eine andere, namentlich digitale Art der Steuerung einher. Tasten und Schalter, die Schaltkreise schließen und öffnen, Ströme fließen lassen oder unterbrechen, treten an die Stelle der analogen Mechaniken. Ein mechanischer Tastendruck löst einen elektrischen Impuls aus, der im digitalen Binärcode des Computers in Ein oder Aus, Null (0) oder Eins (1) übersetzt wird. Videospiele benötigen daher andere Bedienelemente als Bücher. Allerdings wird schon früh der Versuch unternommen, Steuerelemente so zu konstruieren, dass sie mit alltäglichen Gesten zu bedienen sind. Ein Beispiel dafür ist der heute unübliche Paddle-Controller für Spiele wie Pong. Er basiert auf einem Potentiometer, ein Bauteil, das Drehung in Spannungsunterschiede übersetzt

Atari Paddle-Controller
Atari VCS-Bedienungsanleitung

Als visuelle Medien treffen Videospiele auf ähnliche Herausforderungen wie frühere Sehmaschinen und finden mitunter zu vergleichbaren Lösungen.

Lebendige Spiele

Der Elektronenstrahl (auch Kathodenstrahl) tastet stetig die Innenseite der Bildröhre des Fernsehers ab und erzeugt so ein veränderliches Bild. Technisch betrachtet ist das Fernsehbild daher immer schon in Bewegung. Videospiele setzen fast von Anfang an auf veränderliche Bilder und sehr bald auch auf bewegte. Schon in William Higinbothams (1910–1994) Tennis for Two (1958) bewegt sich eine Linie als Stellvertreter eines Tennisballs über die Röhre eines Oszilloskops. Es folgen Raumschiffe, Asteroiden, Rennwagen und vieles andere.

Räumliche Spiele

Bewegliche Figuren und Objekte benötigen Räume, in denen sich ihre Bewegungen abspielen können. Schon in der Antike werden daher Bühnenraum (Orchestra) und Publikumstribüne im Theater räumlich getrennt. Wie das entstehende Spielbilderbuch stellt sich den frühen Videospielen die Frage, wie diese Räume auf der flachen oder allenfalls leicht gewölbten Bildröhre hergestellt werden können. Die Röhre selbst bildet eine Begrenzung. Zur Binnendifferenzierung teilt beispielweise Pong mittels einer gestrichelte Linie die Bildfläche in Hälften.

Pong
Atari, Atari Spielautomat, 1972

Die anfangs noch rudimentäre grafische Oberfläche früher Videospiele wurde zum Beispiel bei der Odyssey-Konsole von Magnavox (1972) mit bedruckten Folien kompensiert, die über die Mattscheibe gelegt werden konnten. Sie zeigten Häuser, Rennstrecken oder Sportplätze und gaben den immer gleichen sich bewegenden weißen Rechtecken auf dem Bildschirm einen thematischen Rahmen. Mit der schnellen Verbesserung der grafischen Möglichkeiten waren sie jedoch bald überholt.

Grafische Mimesis, d.h. die Nachahmung der Realität durch möglichst wirklichkeitsnahe Bilder, war eine wichtige Priorität und ist es in vielen Bereichen der inzwischen stark ausdifferenzierten Videospielewelt bis heute geblieben. Dazu mussten Wege gefunden werden, die Räume, in denen die Spielfiguren agieren, dreidimensional erscheinen zu lassen. Zwei Lösungen wurden dafür gefunden, die beide auf unterschiedliche Weise dem Theater folgen und von Spielbilderbüchern ähnlich angewandt wurden.

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Der Spielraum wird von einer Fläche markiert, die farblich an die Parkettböden von Sporthallen erinnern soll. Der Eindruck räumlicher Tiefe wird von den beiden Diagonalen erzeugt, die die Fläche links und rechts teilen. Der Blick auf das Spielfeld gleicht dem auf eine Bühne.

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Die Spielfiguren werden mittels einer Handvoll von Animationsphasen zum Leben erweckt. Anders als noch bei Pong können die Figuren entlang beider Bildschirmachsen bewegt werden.

Basketball
Atari, Atari VCS 2600, 1978

Einerseits wurden Mittel gefunden, um die Ich-Perspektive zu simulieren. Um die mit der Ich-Perspektive verbundene Zentralperspektive auf dem Bildschirm grafisch darzustellen, waren diagonale Linien unverzichtbar. Da Bildschirmpunkte rechteckig sind, konnten und können sie bis heute jedoch nur als treppenförmige Annäherung dargestellt werden. Das digitale Spiel musste folglich eigene Darstellungsweisen finden, die sich von den Möglichkeiten von Papier und Karton unterscheiden.

Ein Beispiel dafür ist 3D Monster Maze, eines der ersten Viedospiele, in denen sich die Spielenden durch einen dreidimensionalen Raum bewegen. Statt des Minotaurus lauert in diesem Irrgarten ein Tyrannosarus Rex. Es gilt vor dem Tier aus dem Irrgarten zu fliehen. Bemerkenswert ist die Rahmung des Spiels durch eine Clownsfigur, der im zeitgenössischen Zirkusjargon die Spielfunktionen erklärt, wodurch das Spiel ein theatrales Setting erhält.

3D Monster Maze
M.E. Evans, ZX 81, 1981

3D Monster Maze
M.E. Evans, ZX 81, 1981

Andererseits wurden verschiedene Hintergrundebenen hintereinander gestaffelt. Lässt man sie sich unterschiedlich schnell über den Bildschirm bewegen, entsteht ein Tiefeneindruck, der dem Blick aus dem Fenster eines fahrenden Zuges gleicht. Diese Technik wurde bereits für das Cyklorama Fahrt auf der Transsibirischen Eisenbahn bei der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 verwendet. In Videospielen wie Super Castlevania IV (1991) oder Disney’s Pinocchio (1995) eingesetzt, konnte der Eindruck räumlicher Tiefe erzeugt und die Spielwelt in mehrere Tiefenebenen gegliedert werden.

Beide Techniken – Zentralperspektive und Panoramabildband – haben Gemeinsamkeiten mit der Guckkastenbühne, denn zum einen gleicht der zentralperspektivische Blick auf einen Spielraum dem Blick auf die Bühne. Und zum anderen ähneln die in die Tiefe gestaffelten Raumebenen den Kulissen des Theaters. Die Verwandtschaft mit dem Theater zeigt sich deutlich in Spielen wie Knightmare (1991), ist aber auch in thematisch weit davon entfernten Spielen wie Stunt Car Racer (1889) erkennbar.

Knightmare
Mindscape International, Commodore Amiga, 1991

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Außerhalb des Bereichs, in dem das Fahrzeug als Sehmaschine sich stetig verändernde Bilder erzeugt, ist Raum für die aus der lebensweltlichen Erfahrung geläufigen Anzeigen auf dem Armaturenbrett, die auch spielmechanisch von Bedeutung sind.

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Die Windschutzscheibe fungiert als Rahmen: Sie verkleinert den Bildausschnitt, der kontinuierlich neu berechnet werden muss und hält zugleich das Thema des Spiels präsent.

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Die Darstellung der Rennstrecke muss in Echtzeit berechnet werden. Sie ändert sich mit Position und Geschwindigkeit des Fahrzeugs, die von den Spielenden gesteuert werden und nicht vom Spiel im Vorfeld festgelegt sind.

Stunt Car Racer
MicroStyle/Creative Assembly, Commodore 64, 1989

In zeitgenössischen Videospielen sind diese Techniken weiterentwickelt und zum Teil durch weitere ergänzt, wie überhaupt die Spielegrafik immer wirklichkeitsnäher wird. Auch zeitgenössisch hat es bereits andere Darstellungsmodi gegeben (etwa die Draufsicht bei Adaptionen von Brettspielen).

Von Papier und Pixel: Das Paperverse

Mit dem Erscheinen von Paper Mario im Jahr 2000 wendet sich eine in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Videospielserie ihren historischen Vorgängern zu. Kaum zufällig spielt sich das Intro-Video, das in die Handlung des Spieles einführt, auf einer Theaterbühne ab.

Paper Mario
Nintendo, Nintendo 64, 2000

Die Besonderheit an Paper Mario besteht darin, dass die Hauptfigur Mario hier in eine Spielwelt aus Papier versetzt ist. Wie andere in diesem Jahr veröffentlichte Spiele aus dem Jahr Grafiktechnologie bereits so weit entwickelt war, dass die Räume aus dreidimensionalen Objekten zusammengesetzt werden konnten, setzt die Spielgrafik darauf, Figuren und Räume als Gegenstände aus Papier zu gestalten. Damit dies gelingen konnte, musste zunächst ein gewisser Grad grafischer Realitätsnähe erreicht werden, um Papier überzeugend mittels Pixeln darstellen zu können. Gleichzeitg kehrt Paper Mario zu den eigenen Wurzeln zurück. Bevor die Spielfiguren als dreidimensionale Figuren gestaltet wurden, die in einem dreidimensionalen Raum agierten, waren sie  selbst flache Grafiken, eben so als wären sie auf Papier gezeichnet gewesen.

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Viele Spiele setzen auf ein theatrales Erscheinen, um die Handlung zu rahmen.

Videospiele sind seit jeher Teil des Papieruniversums, des so genannten Paperverse. Seit der vollständigen Durchringung des Alltags durch Bücher, Briefe, Dokumente und andere Schriftstücke aller Art gibt es keinen Lebensbereich, der nicht in irgendeiner Weise davon abhinge. Beim Videospiel schließt dies gedruckte Werbekataloge ebenso ein wie Spielverpackungen oder Notizzettel, auf denen das Spiel entwickelt wird oder die von Spielenden während des Spiels angefertigt werden. Entsprechend sind Bücher und andere Papierwaren auch immer wieder Gegenstand von Videospielen gewesen. Sei es, um die Hintergrundgeschichte der Handlung im Spiel zu erzählen, sei es, als bloße Staffage der Bedienelemente.

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In Populous fungiert das Buch nur als Dekor.

Populous
Bullfrog Productions/Electronic Arts, Commodore Amiga, 1989

Andere Spiele setzen sich sehr intensiv mit Büchern auseinander. Ein Beispiel hierfür ist das explorative Abenteuer What Remains of Edith Finch. Hier erkunden die Spielenden das Anwesen der Familie Finch. Die Lebensgeschichten ihrer Mitglieder werden Zimmer für Zimmer erzählt. Vollgestopft mit Büchern präsentiert sich das Haus als Bücherwelt und verweist dabei kontinuierlich auf reale Bücher wie Jorge Luis Borges Erzählungen, Marcel Prousts Suche nach der Verlorenen Zeit und Ovids Metamorphosen.

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Ovids Metamorphosen (ca. 1. n.Chr. bis 8. n.Chr.)

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Das Aleph (1949) und Das Sandbuch (1977) von Jorge Luis Borges

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Mark Z. Danielewski: House of Leaves (2000)

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Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit (1913–1927), hier Auf dem Weg zu Swann.

What Remains of Edith Finch
Giant Sparrow/Annapurna Interactive, Microsoft Windows, 2017

Wiederum andere Spiele setzen auf die Ästhetik der Zeichnung und inszenieren sich auf diese Weise als Teil des Papieruniversums. Beispielhaft ist das aus der Ich-Perspektive gespielte Abenteuer-Puzzle-Spiel The Unfinished Swan, das ebenfalls von dem Studio hinter What Remains of Edith Finch stammt. Am Anfang des Spiels sind alle Objekte in der Welt volltändig weiß und infolgedessen gänzlich undifferenziert. Die Spielenden können sie jedoch mit schwarzer Farbe oder Tusche einfärben, so dass sukzessive die Welt sichtbar wird. Unzählige weitere Beispiele ließen sich anführen.

The Unfinished Swan
Giant Sparrow, Microsoft Windows, 2012

Unmittelbar von Bedeutung für die Frage nach dem medienhistorischen Verhältnis von Videospiel und Spielbilderbuch sind Apps und Spiele, die sich letztere zum Vorbild nehmen. Ganz überwiegend handelt es sich in diesen Fällen um Pop-up-Bücher. In der Ausstellung zeigen wir einige Beispiele hierfür. Dass aber auch ältere Formen von Spielbilderbüchern nicht in Vergessenheit geraten sind, zeigt eine kleine Gruppe von Videospielen, die sich auf diese beziehen. The Inheritance of Crimson Manor ist exemplarisch dafür. Gleich zwei dem 19. Jahrhundert zuzuordnende Spielbilderbücher werden hier adaptiert. Sie fungieren einerseits als zu lösende Rätsel, andererseits als Staffage, die das historische Setting glaubhaft machen sollen.

Watch Over Christmas
Dionous Games, Microsoft Windows, 2021

The Inheritance of Crimson Manor
MediaCity Games, Microsoft Windows, 2022

Vom Spielen und wieder Spielen

Betrachten wir Spielbilderbücher im Kontext anderer historischer und zeitgenössischer Medien, werden sie als interaktive Sehmaschinen erkennbar. Ihre ausgeklügelten Mechanismen sollen vielfach betätigt durch die Leserinnen und Leser die Bilder lebendig werden lassen. Bewegung und Plastizität sind dabei von großer Bedeutung.

Im 20. Jahrhundert treten an ihre Seite Videospiele, die auf ganz ähnliche Weise als Sehgeräte funktionieren und fungieren. Dabei meint Sehgerät hier in Abgrenzung zur Sehmaschine, dass sie hauptsächlich auf elektronischen Signalen wie Steuerimpulsen basieren, während die Sehmaschine auf mechanischer Arbeit beruht.

Gleich ob Spielbilderbuch, Papiertheater oder Videospielekonsole: Ihre Bedienung erfordert Gesten, die an Interfaces ausgeführt werden, seien diese aus Papier oder Kunststoff, mechanisch oder elektrodynamisch. Wie alle Gesten sind sie wiederholbar und so steht das Spielen unter dem Zeichen seiner Wiederholbarkeit. Durch das wiederholte Ziehen an den Laschen der Ziehbilderbücher, durch das wiederholte Auf- und Zuklappen der Pop-up-Seiten und durch das wiederholte Drücken von Steuerhebeln und Knöpfen werden die Bilder dieser Sehmaschinen und Sehgeräte immer wieder aufs Neue in Bewegung versetzt, werden immer wieder neue Bilder erzeugt, die uns in ihren Bann schlagen.

Atari VCS 2600 Spielkatalog
Atari, 1982

Für Unterstützung und Leihgaben dankt die Staatsbibliothek dem Computerspielemuseum, Berlin, dem Papiertheater INVISIUS, Berlin, sowie den Pennsylvania State University Libraries, State College, USA.

Gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.