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Medienguide Bamberg
Unheimlich Fantastisch – E.T.A. Hoffmann 2022

Psychologie

E.T.A. Hoffmann: Selbstbildnis: Brustbild mit physiognomischen Erläuterungen. Berlin Jahreswende 1815/16. Staatsbibliothek Bamberg, V A 225c. Foto: Gerald Raab

E.T.A. Hoffmann: Selbstbildnis: Brustbild mit physiognomischen Erläuterungen. Berlin Jahreswende 1815/16. Staatsbibliothek Bamberg, V A 225c. Foto: Gerald Raab

Die Psychologie machte im frühen 19. Jahrhundert bedeutende Fortschritte, und Hoffmann nahm dies aufmerksam wahr. Das ist auch seinen Texten anzumerken, etwa der komplexen Gestaltung von Hoffmanns Figuren. Dank seiner Beobachtungsgabe gelang es ihm, die verborgenen Seiten der menschlichen Seele in unheimlichen Erzählungen darzustellen. Auch als Jurist war Hoffmann auf der Höhe der psychologischen Forschung seiner Zeit. In seinem Selbstbildnis mit physiognomischen Erläuterungen (1815–1816) parodiert er voller Selbstironie die Vorstellungen der Physiognomik.

„Philosophisch-medicinische Abhandlung“

Um 1800 wandelt sich der Blick auf den Wahnsinn. Wahnsinnige werden nun nicht mehr einfach ausgegrenzt und eingesperrt. Sie werden stattdessen als Leidende wahrgenommen, die therapiert werden sollen. So tritt an die Stelle einer Betrachtung des Wahnsinns aus der Perspektive der Philosophie ein medizinisch-naturwissenschaftlicher Blick auf psychische Krankheiten. Wichtig war hier unter anderen der französische Arzt Philippe Pinel, der im Hospice de Bicêtre bei Paris dafür sorgte, dass die Wahnsinnigen nicht mehr wie Häftlinge behandelt wurden. 1801 verfasste er seine Philosophisch-medicinische Abhandlung über Geistesverirrungen oder Manie.

Philippe Pinel: Philosophisch-medicinische Abhandlung über Geistesverirrungen oder Manie. Mit Kupfertafeln, welche die Form einiger Schedel, und die Abbildungen einiger Wahnsinnigen darstellen. Wien 1801. SBB PK Kk690. Public Domain Mark 1.0

Textausschnitt: Der Einsiedler Serapion

Ihr wißt, daß ich mich vor mehreren Jahren einige Zeit 36 hindurch in B***, einem Orte der bekanntlich in der anmutigsten Gegend des südlichen Teutschlands gelegen, aufhielt. Nach meiner Weise pflegte ich allein ohne Wegweiser, dessen ich wohl bedurft, weite Spaziergänge zu wagen und so geschah es, daß ich eines Tages in einen dichten Wald geriet und je emsiger ich zuletzt Weg und Steg suchte, desto mehr jede Spur eines menschlichen Fußtritts verlor. Endlich wurde der Wald etwas lichter, da gewahrte ich unfern vor mir einen Mann in brauner Einsiedlerkutte, einen breiten Strohhut auf dem Kopf, mit langem schwarzem verwildertem Bart, der dicht an einer Bergschlucht auf einem Felsstück saß und die Hände gefaltet gedankenvoll in die Ferne schaute. Die ganze Erscheinung hatte etwas fremdartiges, seltsames, ich fühlte leise Schauer mich durchgleiten. Solchen Gefühls kann man sich auch wohl kaum erwehren, wenn das, was man nur auf Bildern sah oder nur aus Büchern kannte, plötzlich ins wirkliche Leben tritt. Da saß nun der Anachoret aus der alten Zeit des Christentums in Salvator Rosa’s wildem Gebürge lebendig mir vor Augen. — Ich besann mich bald, daß ein ambulierender Mönch wohl eben nichts ungewöhnliches in diesen Gegenden sei und trat keck auf den Mann zu mit der Frage, wie ich mich wohl am leichtesten aus dem Walde heraus finden könne um nach B*** zurückzukehren. Er maß mich mit finsterm Blick und sprach dann mit dumpfer feierlicher Stimme: »Du handelst sehr leichtsinnig und unbesonnen, daß du mich in dem Gespräch, das ich mit den würdigen Männern, die um mich versammelt, führe, mit einer einfältigen Frage unterbrichst! — Ich weiß es wohl, daß bloß die Neugierde mich zu sehen und mich sprechen zu hören dich in diese Wüste trieb, aber du siehst, daß ich jetzt keine Zeit habe mit dir zu reden. Mein Freund Ambrosius von Camaldoli kehrt nach Alexandrien zurück, ziehe mit ihm.« Damit stand der Mann auf und stieg hinab in die Bergschlucht. Mir war als läg‘ ich im Traum. Ganz in der Nähe hört‘ ich das Geräusch eines Fuhrwerks, ich arbeitete mich durchs Gebüsch, stand bald auf einem Holzwege und sah vor mir einen Bauer, der auf einem zweirädrigen Karren daher fuhr und den ich schnell ereilte. Er brachte mich bald auf den großen Weg nach B***. Ich erzählte ihm unterweges mein Abenteuer und fragte ihn, wer wohl der wunderliche Mann im Walde sei. »Ach lieber Herr, erwiderte der Bauer, das ist der würdige Mann der sich Priester Serapion nennt und schon seit vielen Jahren im Walde eine kleine Hütte bewohnt, die er sich selbst erbaut hat. Die Leute sagen, er sei nicht recht richtig im Kopfe, aber er ist ein lieber frommer Herr der niemanden etwas zu Leide tut und der uns im Dorfe mit andächtigen Reden recht erbaut und uns guten Rat erteilt wie er nur kann.« Kaum zwei Stunden von B*** hatte ich meinen Anachoreten angetroffen, hier mußte man daher auch mehr von ihm wissen, und so war es auch wirklich der Fall. Doktor S** erklärte mir alles. Dieser Einsiedler war sonst einer der geistreichsten vielseitig ausgebildetsten Köpfe die es in M — gab. Kam noch hinzu, daß er aus glänzender Familie entsprossen, so konnt‘ es nicht fehlen, daß man ihn, kaum hatte er seine Studien vollendet, in ein bedeutendes diplomatisches Geschäft zog, dem er mit Treue und Eifer vorstand. Mit seinen Kenntnissen verband er ein ausgezeichnetes Dichtertalent, alles was er schrieb, war von einer feurigen Fantasie, von einem besondern Geiste, der in die tiefste Tiefe schaute, beseelt. Sein unübertrefflicher Humor machte ihn zum angenehmsten, seine Gemütlichkeit zum liebenswürdigsten Gesellschafter, den es nur geben konnte. Von Stufe zu Stufe gestiegen hatte man ihn eben zu einem wichtigen Gesandtschaftsposten bestimmt, als er auf unbegreifliche Weise aus M — verschwand. Alle Nachforschungen blieben vergebens und jede Vermutung scheiterte an diesem, jenem Umstande, der sich dabei ergab.

Nach einiger Zeit erschien im tiefen Tyrolergebürge ein Mensch, der in eine braune Kutte gehüllt in den Dörfern predigte und sich dann in den wildesten Wald zurück zog, wo er einsiedlerisch lebte. Der Zufall wollte es, daß Graf P** diesen Menschen, der sich für den Priester Serapion ausgab, zu Gesicht bekam. Er erkannte augenblicklich in ihm seinen unglücklichen aus M — verschwundenen Neffen. Man bemächtigte sich seiner, er wurde rasend und alle Kunst der berühmtesten Ärzte in M — vermochte nichts in dem fürchterlichen Zustande des Unglücklichen zu ändern. Man brachte ihn nach B*** in die Irrenanstalt und hier gelang es wirklich dem methodischen auf tiefe psychische Kenntnis gegründeten Verfahren des Arztes, der damals dieser Anstalt vorstand, den Unglücklichen wenigstens aus der Tobsucht zu retten, in die er verfallen. Sei es, daß jener Arzt seiner Theorie getreu dem Wahnsinnigen selbst Gelegenheit gab zu entwischen oder daß dieser selbst die Mittel dazu fand, genug er entfloh und blieb eine geraume Zeit hindurch verborgen. Serapion erschien endlich in dem Walde zwei Stunden von B*** und jener Arzt erklärte, daß, habe man wirkliches Mitleiden mit dem Unglücklichen, wolle man ihn nicht aufs neue in Wut und Raserei stürzen, wolle man ihn ruhig und nach seiner Art glücklich sehen, so müsse man ihn im Walde und dabei vollkommne Freiheit lassen nach Willkür zu schalten und zu walten. Er stehe für jede schädliche Wirkung. Der bewährte Ruf des Arztes drang durch, die Polizeibehörde begnügte sich damit den nächsten Dorfgerichten die entfernte unmerkliche Aufsicht über den Unglücklichen zu übertragen und der Erfolg bestätigte, was der Arzt vorhergesagt. Serapion baute sich eine niedliche ja nach den Umständen bequeme Hütte, er verfertigte sich Tisch und Stuhl, er flocht sich Binsenmatten zum Lager, er legte ein kleines Gärtlein an in dem er Gemüse und Blumen anpflanzte. Bis auf die Idee daß er der Einsiedler Serapion sei, der unter dem Kaiser Dezius in die Thebaische Wüste floh und in Alexandrien den Märtyrer-Tod litt, und was aus dieser folgte, schien sein Geist gar nicht zerrüttet. Er war im Stande die geistreichsten Gespräche zu führen, ja nicht selten traten Spuren jenes scharfen Humors, ja wohl jener Gemütlichkeit hervor, die sonst seine Unterhaltung belebten. Übrigens erklärte ihn aber jener Arzt für gänzlich unheilbar und widerriet auf das ernstlichste jeden Versuch ihn für die Welt und für seine vorigen Verhältnisse wieder zu gewinnen. — Ihr könnt euch wohl vorstellen, daß mein Anachoret mir nun nicht aus Sinn und Gedanken kam, daß ich eine unwiderstehliche Sehnsucht empfand ihn wiederzusehen. — Aber nun denkt euch meine Albernheit! — Ich hatte nichts geringeres im Sinn, als Serapions fixe Idee an der Wurzel anzugreifen! — Ich las den Pinel — den Reil — alle mögliche Bücher über den Wahnsinn, die mir nur zur Hand kamen, ich glaubte, mir, dem fremden Psychologen, dem ärztlichen Laien sei es vielleicht vorbehalten in Serapions verfinsterten Geist einen Lichtstrahl zu werfen. Ich unterließ nicht außer jenem Studium des Wahnsinns mich mit der Geschichte sämtlicher Serapions, deren es in der Geschichte der Heiligen und Märtyrer nicht weniger als acht gibt, bekannt zu machen, und so gerüstet suchte ich an einem schönen hellen Morgen meinen Anachoreten auf.

aus: Hoffmann, E.T.A: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht. Band 4. Die Serapions-Brüder, Frankfurt a. M. 2001, S. 23–27.

Literaturempfehlungen:

Auhuber, Friedhelm: In einem fernen dunklen Spiegel. E.T.A. Hoffmanns Poetisierung der Medizin. Opladen 1986.

Kohns, Oliver: Die Verrücktheit des Sinns: Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E.T.A. Hoffmann und Thomas Carlyle. Bielefeld 2007.

Kolkenbrock-Netz, Jutta: Wahnsinn der Vernunft – juristische Institution – literarische Praxis. Das Gutachten zum Fall Schmolling und die Erzählung ‚Der Einsiedler Serapion‘ von E.T.A. Hoffmann. In: Jutta Kolkenbrock-Netz, Gerhard Plumpe und Hans Joachim Schrimpf (Hg.): Wege der Literaturwissenschaft. Bonn 1985, S. 122–144.

Loquai, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik. Frankfurt a.M. 1984.

Mangold, Hartmut: Gerechtigkeit durch Poesie. Rechtliche Konfliktsituationen und ihre literarische Gestaltung bei E.T.A. Hoffmann. Wiesbaden 1989.

Reuchlein, Georg: Das Problem der Zurechnungsfähigkeit bei E.T.A. Hoffmann und Georg Büchner. Frankfurt am Main 1985.

Reuchlein, Georg: Bürgerliche Gesellschaft, Psychiatrie und Literatur. München 1986.