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Was vom künstlerischen Leben nachklingt:

Musikalische Nachlässe in der Staatsbibliothek

Ob nun Tagebuch, Foto oder Brief, Rechnung, sorgfältige Reinschrift oder flüchtig dahingeschriebene Skizze – immer finden sich in den Nachlässen bisher unbekannte Aspekte zur Musikgeschichte, wird Vergangenes lebendig. Interessant sind auch die Wechselbeziehungen und Querverbindungen zwischen einzelnen Nachlässen und Persönlichkeiten.


Die Sammlungen großer Komponisten wie beispielsweise Beethoven oder Mendelssohn üben dabei bis heute eine große Anziehungskraft aus. Viele Musikwirkende wollen einmal ihre eigenen Werke und Dokumente in der Musikabteilung der Staatsbibliothek ‚in guter Gesellschaft‘ verwahrt wissen.

Die Musikabteilung verwahrt rund 500 Nachlässe, Sammlungen und Deposita von Personen und Institutionen der Musikgeschichte bis heute. Einige Bestände sind dabei sehr umfangreich und enthalten die unterschiedlichsten Zeugnisse. Oftmals wurden diese Archivalien von den Hinterbliebenen sorgfältig geordnet und verwahrt und eine Übernahme erfolgt nicht selten in mehreren Etappen. Zahlreiche Nachlässe dokumentieren nicht nur Leben und Schaffen von Musikern, Komponisten und Musikwissenschaftlern, sondern auch die Musik- und Zeitgeschichte Berlins im beginnenden 20. Jahrhundert und haben damit eine übergeordnete Bedeutung erlangt.




Die Nachlässe vermitteln ein überaus lebendiges Bild von ganz unterschiedlichen Musikepochen. Neben den Nachlässen großer, prominenter Persönlichkeiten gesellen sich auch weniger bekannte Namen hinzu.


Der Nachlass von Ferruccio Busoni

Ferruccio Busoni war ein gefeierter Pianist, Komponist, Bearbeiter, Pädagoge und Musikschriftsteller. Nicht nur zahlreiche Konzerttourneen, sondern auch die Meisterklassen (unter anderem in Helsinki, Bologna, Moskau, Boston) verpflichteten den Künstler zu wochenlangen Aufenthalten in der Fremde. Die Reisen durch die Vereinigten Staaten von Amerika empfand Busoni durch den dichten Terminkalender als äußerst strapaziös und sie ließen ihm kaum noch Zeit, seiner Frau Gerda in gewohnt ausführlicher Weise von den Eindrücken und Begegnungen zu berichten. Das ständige Unterwegssein belastete Busonis Gesundheit zunehmend. Hinzu kam, dass er seine laufenden Kompositionsprojekte unterbrechen musste, was fatale Folgen hatte. Darunter war auch seine wichtigste Oper Doktor Faust, an der er beinahe zwei Jahrzehnte bis an sein Lebensende arbeitete und die er nicht fertigstellen konnte. Sein Schüler Philipp Jarnach vollendete das Werk nach Busonis Tod im Jahr 1925.


Ferruccio Busoni im Alter von 53 Jahren. Zum Digitalisat


Postkarten von Ferruccio Busoni an seine Frau Gerda, 1898. Zum Digitalisat Karte 1 | Karte 2

Im Zentrum von Busonis Schaffen steht das musikästhetische Werk Entwurf zu einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Aber erst die zweite, erweiterte Auflage, die 1916 im Leipziger Insel Verlag erschien und dem Dichter Rainer Maria Rilke gewidmet ist, fand breite Beachtung. Busoni entwarf darin Ideen zu einem neuen Tonsystem und Skalen zu einer Drittelton-Klaviatur. Damit löste er eine heiße Debatte aus und wurde vielfach angegriffen (Hans Pfitzner, Futuristengefahr). Busoni entgegnete in der Auseinandersetzung den Kritikern: „Erstens: können wir alles Alte und ebensogut wie die Alten, bevor wir Neues beginnen? Zweitens: haben wir auch Talent?“

Die Umsetzung seiner musikästhetischen Ideen gestaltete sich jedoch äußerst schwierig. In New York wurde 1915 ein erstes Dritteltonharmonium für ihn konstruiert, es erwies sich jedoch als technisch zu aufwendig. Möglicherweise ist hierbei aber der Grundstein zu einer Entwicklung der elektronischen Musik zu sehen und zugleich ein Meilenstein in der Musikgeschichte gesetzt. Die Dritteltonmusik wurde auch in Busonis eigenen Kompositionen keine Realität. Als Komponist blieb er ein Traditionalist.


Ferruccio Busoni: Entwürfe für eine Drittelton-Klaviatur, ca. 1907–1910.
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Der Komponist Arnold Schönberg bemühte sich um einen Pianisten für die Uraufführung seiner Klavierstücke op. 11. Er schickte das fertige Manuskript an Busoni, denn er glaubte in ihm einen Verbündeten zu sehen, der die Umsetzung seiner neuen musikalischen Ideen hervorragend interpretieren konnte. Schönberg hoffte auf sein Interesse, aber das Konzert kam nicht zustande. Stattdessen entdeckte Busoni in Schönbergs Komposition Unzulänglichkeiten und bearbeitete das zweite Klavierstück. Er begründete dies aus der Sicht des Pianisten und wollte den Effekt der unterschiedlichen Klangfarben durch die Auflösung von Akkorden in Spielfiguren und Oktavierungen verstärken. Seine Bearbeitung schickte er an Schönberg zurück. Im Gegenzug kommentierte und kritisierte Schönberg an etlichen Stellen Busonis Notentext. Somit ist in dem Doppelautograph aus dem Jahr 1909 das Ergebnis des fruchtbaren Austausches der beiden Komponisten dokumentiert.

Der überwiegende Teil des Busoni-Nachlasses kam in mehreren Schüben zwischen 1925 und 1943 in die Preußische Staatsbibliothek und ist der Witwe Gerda Busoni zu verdanken. Der Nachlass umfasst Notenmanuskripte, Libretti, Schriften, Briefe, biografisches Material, Porträts, Konzertprogramme und Kritiken. Durch weitere Erwerbungen bis in die jüngste Vergangenheit konnte der Busoni-Nachlass kontinuierlich erweitert werden. Das dichte Material zeigt ein breites Panorama der geistig-künstlerischen Welt der Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts.


Ferruccio Busoni: Bearbeitung des Klavierstücks op. 11 Nr. 2 von Arnold Schönberg, 26. Juli 1909. Zum Digitalisat

Der Nachlass der Comedian Harmonists

Die Geschichte der Comedian Harmonists begann mit einer kleinen Zeitungsannonce im Berliner Lokal-Anzeiger vom 29. Dezember 1927, die der musikalische Autodidakt Harry Frommermann aufgegeben hatte. Er war von dem amerikanischen Gesangsquartett The Revelers begeistert, von ihren Jazzklängen und den fein abgestimmten Einzeltimbres und Klangimitationen. Seine Idee war, ihr Klangideal auf ein deutsches Ensemble zu übertragen.

Auf die Zeitungsanzeige hin waren zum Vorsingen über 70 mehr oder weniger begabte Sänger gekommen. Aber nur der Bass-Sänger Robert Biberti entsprach den künstlerischen Vorstellungen Frommermanns. Der selbstbewusste und verhandlungsgeschickte Biberti verstand sich als Leiter der sich formierenden Gesangsgruppe. Sorgfältig archivierte er für den späteren Nachlass alle Materialien – neben Noten waren das vor allem Geschäftsunterlagen.


Gruppenbild der Comedian Harmonists mit Unterschriften, um 1927–1933. Zum Digitalisat

Biberti nutzte seine Kontakte und gewann den samtweichen Tenor Ari Leschnikoff und den wohlklingenden Bariton Roman Cycowski. Später kamen noch der zweite Tenor Erich Collin und der begabte Pianist Erwin Bootz dazu. Als erste ‚Boygroup‘ der Welt waren die Comedian Harmonists international erfolgreich.



Comedian Harmonists: Mein kleiner grüner Kaktus, 1934. Zum Digitalisat

Collin, Frommermann und Cycowski waren jüdischer Abstammung, was der Allgemeinheit gar nicht bekannt gewesen war. Ihnen wurde vonseiten der nationalsozialistischen Machthaber immer mehr Ablehnung entgegengebracht. Es kam zu ersten Absagen vertraglich vereinbarter Konzerte.



Comedian Harmonists: Morgen muss ich fort von hier, um 1935. Zum Digitalisat

Alle sechs Comedian Harmonists hatten einen Aufnahmeantrag in die Reichsmusikkammer gestellt, aber im Februar 1935 wurden nur die ‚arischen‘ Mitglieder Biberti, Bootz und Leschnikoff aufgenommen. Ihnen wurde verboten, weiterhin als Comedian Harmonists gemeinsam mit Juden aufzutreten. Die nichtarischen Mitglieder flohen ins Ausland und das Ende der Gruppe war besiegelt.



Brief zum Berufsverbot der Comedian Harmonists, 22. Februar 1935.
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